Denken verboten?

«Der Skandal des evangelikalen Denkens ist, dass es nicht viel evangelikales Denken gibt.» Das Zitat stammt weder von Hugo Stamm noch von Georg Otto Schmid, den beiden bekannten Sektenspezialisten. Nein, es ist aus der Einleitung des Buches «The Scandal of the Evangelical Mind» von Mark Noll, einem der einflussreichsten Evangelikalen Nordamerikas. Der Kirchengeschichtsprofessor hat es vor 15 Jahren geschrieben.
Mark Noll schreibt, über viele Jahrhunderte hätten Christen zu den führenden Intellektuellen ihrer Zeit gehört. Ob während der Reformation oder später zur Erweckungszeit mit John Wesley - immer sei geistige Aktivität auch eine Form gewesen, Gott zu ehren. Seit Längerem gelte dies jedoch (zumindest) für Nordamerika nicht mehr in derselben Weise. Skepsis gegenüber dem Intellekt sei weniger in der Theologie als viel mehr in allen übrigen Disziplinen zu sehen. Noll charakterisierte die evangelikale Gesinnung als aktivistisch, populistisch und pragmatisch.
Nun stellt sich die Frage, ob diese wenig schmeichelhaften Worte auch für die Evangelikalen in Europa gelten. Ich wage es nicht, die Frage umfassend zu beantworten. Aber Tendenzen der Beobachtungen Nolls nehme ich auch bei uns wahr. Ich denke an Debatten zu Kreationismus, Bankengeheimnis, Atheismus oder Minarettverbot. Ich habe zu viele schnelle Urteile, Populismus und Verkürzung gesehen. Hören wir doch auf, einander den Glauben abzusprechen, sobald jemand die Evolutionstheorie oder die Atomkraft verteidigt! Lassen wir uns in einer komplexen Welt auf sachliche, ehrliche und demütige Debatten ein. Der Intellekt ist eine Gabe Gottes, die Angst davor jedoch ein Zeichen der Abwesenheit seines Geistes.
idea Spektrum Juli 2011

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