Grossratspräsident 2015/ 16 - ein Porträt

Ab Montag (1. Juni 2015) präsidiert ein Mann den Grossen Rat, der das Reden vor Leuten gewohnt ist. Der 41-jährige EVP-Grossrat Marc Jost aus Thun war in seinem früheren beruflichen Leben Lehrer und Pfarrer. Theologie studieren habe er immer als Ziel gehabt, sagt er. Zuerst Lehrer geworden sei er, weil ihn ein Pfarrer so beraten habe, vorab einen Beruf zu erlernen und Erfahrung zu sammeln.
Für seine zunehmende politische Tätigkeit hat er schliesslich auch das Predigen im Evangelischen Gemeinschaftswerk Thun an den Nagel gehängt. In den letzten Jahren arbeitete er als Generalsekretär beim Dachverband Schweizerische Evangelische Allianz und als Geschäftsführer von Interaction, einen Verband christlicher Hilfswerke. Letztere Tätigkeit hat er soeben aufgegeben, um die Aufgaben als Grossratspräsident erfüllen zu können.
Sein Ziel: Der Nationalrat
Es erscheint logisch, dass Marc Jost von der EVP zum Grossratspräsidenten gekürt wurde und nicht jemand anderes. Innerhalb der Fraktion sei es relativ schnell klar gewesen, sagt er. Er bringe die nötigen Kompetenzen mit und habe die berufliche Flexibilität – aber es passt auch zu seiner politischen Laufbahn. Seit Jahren wird der vierfache Familienvater von der Partei aufgebaut. So kandidierte er zweimal für den Regierungsrat und einmal für den Ständerat.
Dabei ging es nie darum, dass er eine Wahl gewinnen könnte, sondern dass er bekannt wird. Insbesondere bei der medienwirksamen Ersatzwahl für Simonetta Sommaruga in den Ständerat, dürfte dies aufgegangen sein. Sein Ziel sei klar, er wolle Nationalrat werden. Bereits liegt er auf dem ersten Ersatzplatz der einzigen Berner EVP-Nationalrätin Marianne Streiff.
Im Grösseren mehr bewirken
Als Grossrat macht Jost seit 2006 vor allem Familien- und Finanzpolitik oder kümmert sich um typische Anliegen der Evangelischen Volkspartei wie der biblischen Inhalte im Lehrplan 21. Auf kommunaler Ebene hat er nie politisiert, und eigentlich liegen seine Themen auch nicht auf kantonaler Ebene. Menschenrechte, Religionsfreiheit, Entwicklungszusammenarbeit oder lebensethische Fragen interessierten ihn. Und diese würden auf nationaler Ebene behandelt.
Auch im beruflichen Leben hat Jost eine Entwicklung durchgemacht. Von der ursprünglichen Idee, in Südamerika als theologischer Lehrer zu wirken, kam er ab. Stattdessen ist er heute davon überzeugt, dass er auf Ebene Verband fast mehr erreichen könne. «Die Ursache der Probleme im Süden sind auch der Ressourcenverbrauch und der übermässige Konsumdurst in den westlichen Ländern», sagt er. Seine Aufgabe sei es, in der Diskussion mit den zahlreichen NGOs, kirchlichen Gemeinden und christlichen Organisationen zu sensibilisieren.
Vor Ort wirkten kirchliche Leute als Schlüsselpersonen, welche die Botschaften transportieren könnten. Aber nicht überall auf der Welt können christliche Hilfswerke noch offen arbeiten. Eine «Riesenherausforderung» sei es für christliche Organisationen beispielsweise in Syrien oder im Irak, wo es wegen islamistischer Gruppen sehr gefährlich sei. An solchen Orten könnten die Leute teilweise nicht im Namen einer christlichen Kirche arbeiten, sagt Jost.
Religion wird zum Tabu
Auch wenn Jost auf Verbandsebene arbeitet, weiss er, wovon er spricht. In Libanon hat er im letzten Jahr Flüchtlingslager besucht, vorher sei er viel in Kuba gewesen, und ein längerer Aufenthalt in Kolumbien während des Bürgerkriegs bezeichnet er als Schlüsselerlebnis. «Mit so viel Gewalt, Korruption, Armut und Ungerechtigkeit wurde ich in Europa nie konfrontiert», sagt er. Doch sein Ansatz, die Welt mit einer nachhaltigen Lebensweise zu verbessern, tönt, als wäre er Aktivist von Greenpeace. Der kirchliche Aspekt, sagt er, sei die christliche Ethik. «Gott erwartet von uns einen Lebensstil, der Rücksicht nimmt.» Nächstenliebe bedeute in der globalisierten Welt, dass es auch für Menschen im Sudan oder im Tschad genug zum Leben habe.
Während im globalen Süden, wie er sagt, die Kirche ein wichtiger Teil der Zivilgesellschaft ist, schwindet hierzulande die Bedeutung von Religion. In Europa habe Religion in der Öffentlichkeit kaum noch Platz und werde zur privaten Angelegenheit. «Das ist gefährlich, Religion wird zu einem Tabu», sagt Jost. Dabei basierten viele Institutionen der westlichen Gesellschaft auf christlichen Werten, etwa die Spitäler und Schulen.
«Ich hätte viel zu sagen»
Aber ausgerechnet wenn die Weichen für die Kirchen im Kanton Bern gestellt werden, kann Jost nicht mitreden. «Ich hätte viel zu sagen, nehme mich aber wegen des Grossratspräsidiums bewusst zurück», sagt er. Zum Verhältnis Kirche und Staat liegt ein Bericht vor, der dem Grossen Rat im September vorgelegt werden soll. Im Kern geht es bei dieser Diskussion darum, ob die Pfarrer im Sold des Kantons bleiben sollen.
Jost ist ein politischer Mensch, oder wie es seine Ehefrau einmal ausdrückte: «Die politische Arbeit ist ihm auf den Leib geschrieben.» Seine Aufgabe für ein Jahr wird aber nun daraus bestehen, die Sessionen zu leiten und repräsentative Aufgaben wahrzunehmen. Es sei für ihn eine Ehre, sagt er. Das Hauptmotiv sei aber, Verantwortung zu übernehmen. Jost ist überzeugt, dass er etwas bewirken kann, und gleichzeitig entspricht es seiner bescheidenen Art, seine Ambitionen nicht in den Vordergrund zu rücken. Aber seine politische Karriere ist aufgegleist und das Grossratspräsidium wohl nur die Krönung seiner Arbeit auf kantonaler Ebene.
DerBund.ch/Newsnet: Anita Bachmann

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